Aktuelles – Interview Weser Kurier

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Ich habe Philipp Zehl vom Weser Kurier im Rahmen meiner Tätigkeiten als Vorstandsmitglied des Pivke Vereins Verden, der sich um Pflege- und Adoptivkinder kümmert, ein Interview gegeben und freue mich über die Veröffentlichung:

 

Herr Westerholt, wie haben Sie bisher die Pandemie durchlebt?

 

Matthias Westerholt: Zu Beginn der Pandemie bin ich noch ganz nett und aufgeregt durch diese schwere Zeit gekommen. Mittlerweile bin ich jedoch genervt. Man schleppt sich durch und hofft, dass es bald vorbei ist. Inzwischen schleicht sich aber auch vermehrt die Angst ein, selber an dem Virus zu erkranken.

 

Sie sind Mitglied des Vorstands des Vereins „Eltern und Freunde von Adoptiv- und Pflegekindern im Landkreis Verden" (Pivke). Wie sind Sie mit der Thematik in Berührung gekommen?

 

Ich habe sowohl im privaten Umfeld als auch in meinem Beruf als Anwalt sehr viel mit Pflegekindern zu tun. Seit nun mehr 20 Jahren bin ich als Rechtsanwalt in dem Bereich der Pflegekinder und -familien tätig. Mein Geschäftsfeld hat sich dadurch auf diesen Bereich fokussiert. Jedoch meide ich den Begriff des Pflegekindes so gut wie es nur geht. Dagegen nenne ich die Mädchen und Jungen: Kinder, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können. Oft hat der Begriff Pflegekind etwas Stigmatisierendes. Sie werden häufig in Schubladen gesteckt – aber letzten Endes sind es ganz normale Kinder. Durch meine beruflichen Tätigkeiten bin ich damals auf den Verein Pivke aufmerksam geworden. Da die Entwicklung des Vereins stagnierte, war meine Intention, dass etwas getan werden muss. Andreas Böhrs und ich sind von Anfang an dabei und arbeiten seitdem in unterschiedlichen Besetzungen im Verein, der sich in den vergangenen Jahren sehr entwickelt hat.

 

Sie sind sozusagen schon ewig mit von der Partie. Worin unterscheiden sich denn die Probleme von Pflegeeltern im Vergleich zu denen von den Leiblichen?

 

Die Adoptiv- und Pflegeeltern müssen die besonderen Herausforderungen, die Pflege- und Adoptivkinder mitbringen, meistern. Viele Eltern sind erstaunt, was es bedeutet, wenn Kinder bereits traumatische Erfahrungen erlebt haben. Es ist eine harte Arbeit, die seelische Belastung zu akzeptieren. Dabei unterschätzen viele Eltern auch, was es letztendlich heißt, sich um ein Pflegekind zu kümmern. Dies ist mit einem hohen Aufwand verbunden. Oft ist es auch ratsam, nicht alles aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Obwohl die nötige Liebe zu geben, immer wichtig ist. Man muss ein traumatisiertes Kind auf eine bestimmte Weise behandeln. Dabei kann man viel erreichen, wenn man es richtig angeht.

 

Können Sie dies genauer erklären?

 

Die Pflegeeltern müssen akzeptieren, dass das Kind leibliche Eltern hat, die eine Bedeutung für das Kind haben und gegebenenfalls auch Ansprüche stellen. Hierbei gibt es einerseits die Sorte von leiblichen Eltern, die viel Theater machen und einen selber sowie das Kind stressen, andererseits aber auch Eltern, mit denen man gut reden kann. Dabei spielt das Jugendamt eine ganz große Rolle. Die Fachbehörde ist wichtig, um eine vernünftige Basis der Zusammenarbeit zu finden. Aufgrund dessen, dass Pflegekinder aus der leiblichen Familie herausgenommen werden und in einer neuen Familie unterkommen, verändert sich das Umfeld der Kinder stark. Umso wichtiger ist es, dass Pflegeeltern Sicherheit verkörpern. Denn oftmals, wenn es Probleme zwischen leiblichen und Pflegeeltern gibt, prasseln zwei Seiten auf die Kinder ein, was zu neuen Problem führt und große Unsicherheit entsteht. Es gibt natürlich auch Kinder, die zu ihren leiblichen Eltern keinen Kontakt haben wollen.

 

Apropos Kontakt. Gibt es da eigentlich rechtliche Altersgrenzen?

 

Man kann hierbei über alles streiten. Letztendlich gibt es kein Alter, wo ein Kind selber entscheiden darf – solange es keine 18 Jahre alt ist –, dass es die leiblichen Eltern nicht sehen will oder darf. Bis zur Volljährigkeit entscheiden das andere. Doch je älter Kinder werden, umso mehr bilden diese eine eigene Meinung und verschaffen sich Klarheit, was sie selber wollen. Jedoch kenne ich auch einen Fall, wo das Kind 17 Jahre alt war und gezwungen wurde, Umgang mit seinen leiblichen Eltern zu haben. Deswegen ist es auch nicht selten, dass Kinder weglaufen, um dem Ganzen zu entgehen.

 

Sie meinten bereits, dass Sie als Anwalt im Familienrecht viele Fälle behandeln, in denen es um Pflege- und Adoptivkinder geht. Was sind die häufigsten Probleme der Kinder, mit denen Sie konfrontiert werden?

 

Letztendlich haben die Kinder, die wir vertreten, dieselben Probleme wie Kinder in leiblichen Familien. Jedoch kommt bei den Pflege- und Adoptivkindern immer ein bestimmter Grund hinzu, warum diese nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben. Beispielsweise wegen Missbrauchs, Vernachlässigung oder Misshandlung. Andere Gründe sind, wenn die leiblichen Eltern psychisch erkrankt sind oder Alkoholprobleme haben. Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) spielt bei der gesamten Thematik eine große Rolle. Sprich, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol oder Drogen genommen hat. Dies hat zur Folge, dass viele der Mädchen und Jungen minderentwickelt sind. Was diesen Kindern angetan wird, ist ganz furchtbar. Zusätzlich dazu müssen sich die Mädchen und Jungen mit der Thematik auseinandersetzen, dass sie sowohl Herkunfts- als auch soziale Eltern haben. Das sind nur ein paar Probleme bei den Pflege-und Adoptivkindern, die zu den alltäglichen normalen Problemen hinzukommen und die sie mit sich rumschleppen. Deshalb gehen viele der Pflege- und Adoptivkinder zur Traumatherapie, um die Geschehnisse zu verarbeiten.

 

Treten die psychischen Probleme hierzulande vermehrt bei Pflegekindern auf?

 

In Deutschland haben rund zwölf Prozent aller Kinder eine seelische Störung. Dagegen bewegen wir uns bei Pflegekindern im Bereich um die 80 Prozent, die ein seelisches Problem, Bindungsstörungen oder ähnliches aufweisen. Deswegen kommt es häufig dazu, dass viele der Kinder ihre Pflegemutter schlagen. Jedoch hat das meistens nichts mit der Pflegemutter an sich zu tun, sondern ist auf die erlittenen Misshandlungen in der Vergangenheit durch die leiblichen Eltern zurückzuführen. Der Ärger und die Angst des Kindes übertragen sich dann unabsichtlich auf die Pflegemutter.

 

Nehmen die unterschiedlichen Schicksale der einzelnen Kinder Sie auch mal persönlich mit oder muss man das strikt trennen?

 

Dies muss man strikt trennen. Gerade beruflich habe ich mit ganz harten Fällen zu tun. Jedoch muss ich zugeben, dass es nicht immer gelingt, dies zu trennen oder auszublenden. Je länger ich dabei bin, umso schwerer fällt es mir. Die Schicksale und Erlebnisse der Kinder gehen einem sehr nahe.

 

Um die Erlebnisse zu verarbeiten, unterstützt Pivke die Betroffenen. Welche Aufgaben übernimmt der Verein und wie finanziert er sich?

 

Der Verein hat die Aufgabe, die jeweiligen Eltern zu beraten, zu vermitteln und zu unterstützen. Der Verein ist sozusagen eine Interessensvertretung der Familien im Landkreis Verden. Neben der Lobbyarbeit helfen wir, wo es nur geht. Aus diesem Grund haben wir auch zwei Psychologinnen, die auf freiberuflicher Basis arbeiten. Diese leiten Gesprächsgruppen und bieten auch individuelle Beratungen an. Die finanzielle Förderung übernimmt der Landkreis. Konzeptionell gesehen ist es so, dass wir auch eine gewisse Eigenbeteiligung haben. Es ist uns wichtig hervorzuheben, dass wir unabhängig vom Jugendamt in Verden arbeiten. Unser Verein hat derzeit 54 Mitgliedsfamilien, die mindestens ein Pflege- oder Adoptivkind haben und betreut werden.

 

Da Sie gerade diese Zahl erwähnen: Ist die Anzahl an Pflege-und Adoptivkinder, die eine Familie haben kann, eigentlich festgelegt?

 

Dies ist von Jugendamt zu Jugendamt unterschiedlich. Manche geben einer Familie lediglich ein Kind, andere bekommen drei und dann ist Ende. Ich persönlich kenne im Landkreis Verden keine Familie, die mehr als drei Pflege- oder Adoptivkinder hat. In Rotenburg gab es einmal eine Familie, die hatte insgesamt sieben. Hier wird noch einmal besonders deutlich, wie hochgradig unterschiedlich alles geregelt ist.

Der Verein will auch informieren. Aus diesem Grund besteht seit einiger Zeit eine Kooperation mit der Stadtbibliothek Achim. 

 

Wie funktioniert dieses gemeinsame Projekt?

 

Wir haben über 300 Medien angeschafft und der Stadtbibliothek geschenkt. Die zur Verfügung gestellten Bücher mit Themen für Pflege- und Adoptivkinder können dann ganz normal bei der Bibliothek ausgeliehen werden. Dazu zählen Ratgeber, Biografien sowie Kinderbücher. Um genau zu sein, besteht die Kooperation seit nun mehr fünf Jahren. Die Zusammenarbeit mit der Achimer Bibliothek läuft super. Jedes Jahr bekommen wir eine Rückmeldung, wie viele unserer Bücher binnen eines Jahres ausgeliehen wurden. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 130.

 

Sind gewisse Bücher sehr gefragt?

 

Ja, es gibt viele Kinderbücher, die sich mit der Thematik Adoption und Pflegekinder befassen, die mehrmals im Jahr ausgeliehen werden. Mithilfe der Bücher soll betroffenen Kindern zum Beispiel bei- und nahegebracht werden, dass sie leibliche Eltern haben. Damit sollte man nicht allzu lange warten.

 

Was meinen Sie damit?

 

Adoptiv- oder Pflegeeltern sollten ihr Kind spätestens mit sechs Jahren aufklären und Gespräche darüber führen, dass es leibliche Eltern hat. Natürlich haben wir auch mit Pflegekindern zu tun, die längst das sechste Lebensjahr vollendet haben. Von der Geburt an bis hin zum 18. Lebensjahr ist alles dabei – auch Kinder, die über 18 Jahre alt sind und in Pflegefamilien leben. Je früher ein Kind in einer Pflegefamilie ist, desto weniger Schlimmes hat es erlebt. Auch hier im Landkreis Verden werden immer Eltern gesucht, die ein Pflegekind aufnehmen möchten. Es ist zwar eine große Herausforderung für alle Beteiligten – doch es ist letztendlich toll, mit Kindern zusammenzuleben und diese aufwachsen zu sehen. Wer Interesse hat, kann sich ans Jugendamt wenden.

 

Welche Voraussetzungen gibt es?

 

Alle Interessierten müssen einen 26-stündigen Kursus belegen, bei dem viele Themen beleuchtet werden. Beispielsweise der richtige Umgang mit den Kindern. Unser Verein gibt dazu Auskunft und begleitet diesen Kursus. Dabei beleuchtet das Jugendamt auch das Alter der möglichen Eltern, den beruflichen Hintergrund und vieles mehr. Auch die Erlebnisse der Kinder werden dabei berücksichtigt. Zum Beispiel werden Mädchen, die sexuell missbraucht wurden, oft an Alleinerziehende vermittelt oder an gleichgeschlechtliche Paare.

 

>> Interview vom 17.02.2021 im Weser Kurier