Gerichtsurteil über verhaltenauffälliges Kind

| Gerichtsurteil, Neulich im Amtsgericht , Pflege, Jugendamt

Das Kind lebte seit fünf Jahren in der Pflegefamilie. Es war zwei Jahre und drei Monate als, als es dort einzog. Vom Jugendamt als "total pflegeleicht" angekündigt, zeigten sich bald massive Verhaltensauffälligkeiten. Das Kind fiel in der Schule auf, randalierte zuhause, beschimpfte seine Pflegeeltern und nahm nur sehr unregelmäßig an den Mahlzeiten teil. Die Pflegeeltern suchten immer wieder den Rat und die Unterstützung des Jugendamtes. Dort vereinbarte man ein Belohnungspunktesystem für das Kind, finanziere den Pflegeeltern einen Kurs "Wie kann mein Kind Regeln lernen" und setzte in der Schule einen "Nachteilsausgleich" durch.

 

Bei den drei Klassenkonferenzen in der 1. Klasse war die Sachbearbeiterin vom Jugendamt stets dabei. So richtig half das alles nicht. Erst als eine neue Sachbearbeiterin im Jugendamt vorschlug, das Kind psychotherapeutisch untersuchen zu lassen, diagnostizierte die zuständige Kinder- und Jugendpsychiatrie "mit hoher Wahrscheinlichkeit eine frühkindliche Traumatisierung" und empfahl die Anbindung an einen darauf spezialisierten Psychotherapeuten. Die Pflegeeltern suchten und fanden, das Kind begann mit der Diagnostik. Nach drei Terminen war Schluss. Nach einer Eskalation in der Schule nahm das Jugendamt das Kind in Obhut und verbrachte es in eine 300 km entfernte, am Wohnort der leiblichen Mutter (die alle vier Woche für 2 Stunden begleiteten Umgang hatte) gelegene Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Die Pflegeeltern wurden abends angerufen. Dieses sei besser für das Kind. Die Pflegeeltern seien überfordert. Alle bisherigen Maßnahmen haben nichts genutzt. Trotz therapeutischer Anbindung habe es erneut eine Eskalation in der Schule gegeben. Man könne den weiteren Verbleib in der Pflegefamilie nicht mehr verantworten. Wo das Kind lebe, dürfe man aus Datenschutzgründen nicht sagen, Umgang sei nicht möglich, das Kind müsse sich an seine neue Umgebung gewöhnen. Die Pflegeeltern waren zutiefst geschockt (und haben bis heute den Verlust ihres Kindes seelisch nicht verwunden) und riefen das Gericht zu Hilfe. Auf gut Glück stellte der Anwalt seinen (Verbleibens-) Antrag bei dem für den Wohnort der leiblichen Mutter zuständigen Gericht. Und hatte Glück. Das Kind lebte tatsächlich in einer Einrichtung, für die genau dieses Gericht zuständig war. Sechs Wochen später kam es zur mündlichen Anhörung.

 

Alle (Richterin, Verfahrensbeistand, altes und neues Jugendamt) schauten die Pflegeeltern traurig an und schüttelten den Kopf. Dem Kind gehe es in der Einrichtung gut. Es habe dort schon Freunde gefunden und sei schon viel ruhiger geworden. Jetzt könne auch die leibliche Mutter endlich wieder mehr Kontakt zum Kind haben. Darüber würde sich der Junge sehr freuen. Sie, die Pflegeeltern, hätten tolle Arbeit geleistet, wofür man sehr dankbar sei. Nun müsse man sich aber verabschieden und dem Kind die Chance geben, eine neue Heimat zu finden. Nach sehr langer und sehr intensiver Diskussion sah die Richterin schließlich ein, dass sie hier wohl nicht ohne ein Sachverständigengutachten wird entscheiden können. Darüber würde sie nun nachdenken. Eine Entscheidung ergehe im schriftlichen Verfahren. Den Eilantrag auf Rückführung würde sie jedoch zunächst ablehnen, da es dem Kind an seinem neuen Wohnort ja nicht schlecht gehe, es läge insofern keine Kindeswohlgefährdung vor. Umgang könne auch zunächst nicht stattfinden, das würde das Kind zu sehr verwirren. Danach passierte - nichts. Mehrere schriftliche Anfragen blieben unbeantwortet. Die Richterin war telefonisch nicht zu erreichen. Nach einem Monat kam dann die Ladung im Umgangsverfahren. Immerhin. Die Richterin sagte erneut eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu und "versprach", nunmehr auch im Verbleibensverfahren zu entscheiden.

 

Es geschah - nichts. Nach einem Monat erging dann die (ablehnende) Entscheidung des Umgangsantrags. Sonst - nichts. Schließlich erhob der Anwalt der Pflegeeltern eine Untätigkeitsbeschwerde. Es geschah - nichts. Nach einem weiteren Monat (früher geht nicht) ging dann per Fax die Beschwerde über die Nichtbescheidung der Untätigkeitsbeschwerde an das Oberlandesgericht. Zwei Wochen später ein Fax vom Oberlandesgericht: Die Beschwerde über die Beschwerde müsse beim Amtsgericht eingereicht werden. Das konnte schnell telefonisch geklärt werden, das OLG irrte, die Beschwerde muss an das Beschwerdegericht geschickt werden. "Nun ja", entschuldigte sich der OLG - Richter. Es sei das 1. Mal, dass ein Amtsgericht auf eine Untätigkeitsbeschwerde nicht reagiere und das OLG entscheiden müsse. Eine Woche später kam dann endlich die Entscheidung des Amtsgerichts. Natürlich wurde der Verbleibensantrag abgelehnt. Ein Gutachten hielt man nicht für nötig. Zwei weitere Monate später bestätigte dann das OLG die Entscheidung. Nun sei es für eine erneute Herausnahme des Kindes aus seiner gewohnten Umgebung zu spät. Das Kind habe sich dort eingelebt und könne dort nicht ohne bleibende Schäden wieder herausgenommen werden. Auch Umgang sei dauerhaft ausgeschlossen. Das würde das Kind zu sehr verwirren. Die Pflegeeltern haben ihr Kind nie wieder gesehen.