Selbstbeschaffte Verwandtenpflege
Nicht selten leben die Enkel bei der Oma oder die Neffen und Nichten bei der Tante. „Innerfamiliäre" Problemlösung, wie es in Fachkreisen heißt. Man hilft sich, man unterstützt sich, man verhindert die Aufnahme der Kinder in einer Pflegefamilie. Ein Weg, der für viele Familien absolut unvorstellbar ist.
Irgendwann, manchmal erst viele Jahre nach Beginn dieser „innerfamiliären Lösung", kommt jemand auf die Idee, dafür eine Vollzeitpflegemaßnahme beim Jugendamt zu beantragen. Ein Weg, den Jugendämter nicht immer mit begeisterten Augen begleiten. Dennoch müssen Sie sich natürlich mit entsprechenden Anträgen beschäftigen. Und (oft) nachträglich die Vollzeitpflege bewilligen. Und zwar immer dann, wenn klar ist, dass eine Betreuung und Erziehung der Kinder bei den leiblichen Eltern ausgeschlossen ist und die Verwandten geeignet sind, entsprechende Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen zu erbringen.
Im Gegensatz zur „innerfamiliären Lösung" begründet die Vollzeitpflege ein Rechtsverhältnis zum Jugendamt mit Rechten und Pflichten. Neben der Pflicht des Jugendamtes, Pflegegeld zu bezahlen, entsteht die Pflicht der (verwandten) Pflegeeltern, Mitarbeiter/innen des Jugendamtes ins Haus zu lassen, zu prüfen, ob und wie Umgang mit den leiblichen Eltern gut oder schlecht ist, und vor allem zu prüfen, welche Hilfe das Kind (Therapie, Tagesgruppe, Elterntraining, Assistenz) braucht. Das alles gehört zur Arbeit einer (verwandten) Pflegefamilie dazu.
Die Ruhezeit ist mit der Meldung an das Jugendamt vorbei. Ab jetzt ist Mitarbeit im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe gefordert. Das muss den beteiligten Personen klar sein. Andererseits dürfen Jugendämter die Aufnahme der langjährigen (unbekannten) „innerfamiliären Lösungen" in das Kinder- und Jugendhilfesystem nicht ohne Grund ablehnen. Nach dem Motto, das lief bis jetzt innerfamiliär, das kann und soll so bleiben. Besteht ein (normaler oder gesteigerter) Bedarf des Kindes nach Erziehung und Betreuung in einer (fremden oder verwandten) Pflegefamilie, ist dieser Bedarf zu befriedigen.
Es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, im Rahmen einer Vollzeitpflege in der (verwandten) Familie. Wenn irgendwann in der Vergangenheit schon einmal ein Antrag auf Kinder- und Jugendhilfe gestellt wurde, muss das Jugendamt unter Umständen sogar rückwirkend bewilligen (und bezahlen). Der Deutsche Verein als Fachstelle der Jugendämter in Deutschland hat sich in einem Gutachten mit den Voraussetzungen der Anerkennung einer solchen „innerfamiliären Lösungen" beschäftigt. Diese werden zukünftig von den Jugendämtern zur Grundlage ihrer Entscheidungen gemacht.
Gutachten 2017
22.03.2017 – Zu den Voraussetzungen der Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII bei selbst initiierter Verwandtenpflege
- Die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII setzt im Fall selbst initiierter Verwandtenpflege – wie bei Fremdpflegeverhältnissen auch – voraus, dass die Pflegepersonen geeignet sind, den erzieherischen Bedarf des Kindes zu decken, seine individuelle und soziale Entwicklung zu fördern.
- Die Geeignetheit ist im Rahmen des Hilfeplanverfahrens im Hinblick auf das konkrete Pflegeverhältnis zu prüfen. Zur Geeignetheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gehört zum einen, dass die Pflegepersonen eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung gewährleisten können, und zum anderen, dass sie sich auf die Kooperation mit dem Jugendamt einlassen und gegebenenfalls zur Annahme unterstützender Leistungen bereit sind.
- Es gehört zu den Aufgaben der Fachkräfte der Jugendhilfe, soweit das erforderlich ist, auf die Pflegepersonen zuzugehen und die Kooperationsbereitschaft zu fördern. Besteht trotz aufrichtiger Bemühungen der Fachkräfte keinerlei Bereitschaft der Pflegepersonen zur Kooperation mit dem Jugendamt, ist die Hilfegewährung abzulehnen und es müssen andere Wege gesucht werden, den Hilfebedarf zu decken. Das Jugendamt darf von den Pflegepersonen nicht als bloße „Zahlstelle" betrachtet werden.
- Im Fall der Geeignetheit der Pflegepersonen steht es der Hilfegewährung – bezogen auf den Zeitraum nach Antragstellung – nicht entgegen, dass die Inpflegenahme bereits vor der Antragstellung erfolgt ist, und in diesem Sinne eine „Selbstbeschaffung" vorliegt.