Zum Unterschied zwischen offener Adoption und Dauerpflege
Das Gesetz legt fest, dass vor und während einer langfristig zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie zu prüfen ist, ob die Annahme als Kind in Betracht kommt, um eine auf Dauer angelegte Lebensperspektive zu schaffen. Der Vorrang der Adoption beruht auf der Überzeugung, dass die Annahme als Kind einer dauerhaften Fremdbetreuung vorzuziehen ist, wenn die Eltern langfristig ihre Verantwortung nicht wahrnehmen.
Während die Familienpflege eine Maßnahme darstellt, bei der ein Kind grundsätzlich zeitweilig von anderen als den Herkunftseltern versorgt wird, ordnet eine Adoption das Kind neuen Eltern endgültig zu. Als Volladoption beendet sie die Beziehung des adoptieren Kindes zu seiner Ursprungsfamilie, integriert das Kind vollumfänglich in die Familie des Annehmenden und überträgt das verfassungsrechtliche Elternrecht auf die Adoptiveltern. Sobald die abgebenden Eltern in eine Adoption eingewilligt haben, ruht die elterliche Sorge, die Befugnis zum persönlichen Umgang erlischt. Es kann auch eine Inkognito-Adoption stattfinden, bei der die Herkunftseltern keine Informationen über die Adoptiveltern erhalten.
Anders stellt sich die Dauerpflege dar: Dort behalten die ("Herkunfts"-) Eltern grundsätzlich ihre elterlichen Rechte und Pflichten. Die Pflegeperson ist darauf beschränkt, in Angelegenheiten des täglichen Lebens zu entscheiden sowie den Inhaber der elterlichen Sorgen in solchen Angelegenheiten zu vertreten, wenn das Kind für längere Zeit in Familienpflege lebt.
Pflegekinder wachsen somit zwischen den rechtlichen Eltern und den sozialen Pflegeeltern auf. Pflegegeschwistern sind sie namens- oder erbrechtlich nicht gleichgestellt. Da die rechtlichen Eltern über ein Umgangsrecht verfügen, können sie Umgang mit ihrem fremdbetreuten Kind verlangen. In 86% der Pflegekinderverhältnisse findet Umgang mit Mitgliedern der Herkunftsfamilie statt, der aufgrund der ungeklärten Lebensperspektive des Kindes oftmals nicht frei von Konflikten ist. Prinzipiell haben die (Herkunfts-) Eltern das Recht, die Fremdbetreuung jederzeit zu beenden. Das Kind verbleibt nur ausnahmsweise gegen ihren Willen in der Pflege: Verlangen die Eltern ihr Kind von den Pflegeeltern heraus, kann ihnen das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen werden, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder es ergeht - als milderes Mittel- eine Verbleibensanordnung, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet wird.
Gemäß § 36 Abs. 1 S.2 SGB VIII ist eine Adoption vor und während einer langfristig zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie in Betracht zu ziehen. Wann eine vorübergehende Pflegemaßnahme endet und eine Dauerpflege beginnt, ist abstrakt nicht bestimmbar. Nach § 33 S.1 SGB VIII umfasst Vollzeitpflege entweder "eine zeitlich befristete Erziehungshilfe" oder "eine auf Dauer angelegte Lebensform". In der Realität verweilen Kinder - gemessen an einem bestimmten Stichtag- durchschnittlich mehr als fünf Jahre in der jeweiligen Pflegemaßnahme. Rund 95% der Kinder in Vollzeitpflege kehren bis zum Erreichen der Volljährigkeit nicht in ihre Herkunftsfamilie zurück. Zusätzlich werden nach Schätzungen für das Jahr 2010 circa. 125.000 Pflegeverhältnisse auf privater Basis arrangiert, über deren Dauer keine Angaben vorliegen. De facto erstrecken sich die meisten - offiziell erfassten- Pflegeverhältnisse in Deutschland also auf längere Zeit.
Verglichen damit wurden im Jahr 2014 in Deutschland 1.491 (minderjährige) Kinder familienfremd adoptiert. Sicherlich ist eine Adoption nicht für jedes außerhalb seiner Herkunftsfamilie aufwachsende Kind die beste Lösung; doch dürfte eine Adoption in vielen Fällen die vorzugswürdige Alternative darstellen, wenn ein Kind nicht lediglich vorübergehend fremd betreut wird. Die Annahme als Kind gilt als Fürsorgemaßnahme - ein Zweck, den sie in der Realität kaum erfüllt. Um dieses Defizit abzumildern, könnten die rechtliche Absicherung und die Förderung von (offenen) Adoptionen wichtige Schritte sein.
Das Adoptionsrecht fingiert die juristische Wiedergeburt des Kindes in der Adoptivfamilie. Diese Konzeption schließt die Herkunftseltern aus dem Leben des Adoptivkindes aus. Doch die Vermittlungspraxis schwächt die Wirkungen der Volladoption ab.
Es werden vermehrt sogenannte offene Adoptionen durchgeführt. Der Begriff "offene Adoption" umfasst eine Bandbreite von Adoptionsformen, in denen Herkunfts- und Adoptiveltern, das Kind sowie das Jugendamt unterschiedlich intensiv miteinander interagieren: Beispielsweise vereinbaren die beteiligten Elternpaare, dass das Jugendamt Informationen über das Adoptivkind zwischen den Eltern vermittelt, wobei die Annehmenden anonym bleiben. Verständigen sich die Familien darauf, dass die Identität der Adoptiveltern bekannt ist, treffen sie die Absprachen unmittelbar untereinander. Sie können etwa verabreden, dass die Herkunftseltern die Adoptiveltern und / oder das Kind gelegentlich telefonisch oder persönlich kontaktieren. Denkbar sind Arrangements, in denen das Adoptivkind mehr oder weniger intensive Umgangskontakte mit seinen Herkunftseltern pflegt; regelmäßiger Umgang, wie er nach Trennung und Scheidung auf der Basis von §1684 BGB stattfindet, ist hingegen nur sehr selten vorgesehen.
Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien beschreiben die überwiegend positiven Effekte dieser Adoptionsformen. Durchgesetzt haben sie sich nicht zuletzt aufgrund eines gesellschaftlichen Einstellungswandels. Das Stigma der nichtehelichen Geburt ist verschwunden, hingegen trat das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft immer stärker in den Vordergrund: Für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes wird es heute als positiv bewertet, wenn sich dieses mit seiner familiären Vergangenheit auseinandersetzen kann. Daher klären Adoptiveltern heutzutage ihre Kinder üblicherweise früh und offensiv über ihre Herkunft auf - die Adoptionsbiografie wird nicht mehr tabuisiert.
Treffen abgebende Eltern mit den Adoptiveltern im Vorfeld der Adoption eine Absprache über ein offenes Arrangement, ist diese Vereinbarung aber rechtlich unverbindlich; ob sie eingehalten wird oder nicht, steht im Belieben der Adoptiveltern. Abgebende Eltern müssen - nicht zuletzt wegen der mit notariellen Beurkundung verbundenen Aufklärung und Beratung - bei Abgabe einer Einwilligungserklärung klar sein, dass nach geltendem deutschen Recht sämtliche (Eltern-) Rechte erlöschen.
(Entnommen und leicht gekürzt aus „Die Annahme als Kind als Alternative zur Dauerpflege", - Verrechtlichung offener Adoptionen sowie Ansätze finanzieller Förderung- von Dr. Andreas Botthof, Marburg, FamRZ 2016.)