Interview mit Frau Dr. med. Gölz
Interview mit Frau Dr. med. Petra Gölz, Inhaberin der Praxis für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Achim mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie.
Frage: Sie sagen, dass Sie jedes Kind als Kind betrachten. Egal ob es ein Pflegekind ist oder nicht. Ist die Frage nach den besonderen Herausforderungen bei „Pflegekindern" denn falsch?
Antwort: Ja. Ich betrachte meine Patienten nie so: Schublade auf, Pflegekind rein, Schublade zu, biologische Eltern raus und so weiter. Ich kenne natürlich auch die Geschichte der Kinder. Was enorm wichtig ist. Aber ich versuche immer, jeden als Menschen zu sehen und seinen Bedürfnissen entsprechend zu behandeln.
Frage: Nach unserer Erfahrung sind bei Kindern, die in Pflege- oder Adoptivfamilien leben oftmals ähnliche Probleme zu bewältigen. Der Umgang mit traumatischen Erfahrungen, die Frage nach Bindungsproblemen, Art und Weise mit den leiblichen Eltern umzugehen.
Antwort: Jedes Kind hat ja seine eigene Geschichte. Wann ist es zu den Pflegeeltern gekommen? Welche Bedingungen haben dort bestanden? Bei Säuglingen haben Pflegeeltern deutlich bessere Chancen eine Bindung aufzubauen. Das ist immer wieder zu beobachten. Wenn ein Kind erst mit drei oder vier Jahren, nach einem langen Weg mit Übergangspflege und immer wieder neuen Versuchen ambulanter Hilfsmaßnahmen im Haushalt der leiblichen Eltern, in eine Pflegefamilie kommt, sind die Konflikte ganz anders. Der Prozess des Bindungsaufbaus ist hier schon gelaufen. Kommen die Kinder dann mit negativen Erfahrungen in die neue Familie, stehen die Pflegeeltern wirklich vor einer riesen Herausforderung. Solche negativen Erfahrungen sind oftmals kaum noch zu kitten.
Frage: Kann man als Pflegeeltern denn überhaupt noch was „kitten"?
Antwort: Bedingt. Wichtig ist hier die Unterstützung durch das Jugendamt. Zu dem ich mir inzwischen ein gutes Vertrauensverhältnis aufgebaut habe. Hier insistiere ich immer wieder und frage wann endlich gehandelt wird. Wann beschränkt man sich dort nicht mehr auf Familienhilfe, sondern handelt und gibt dem Kind eine Chance, aus diesem Problemfeld herauszukommen. Ich spreche da natürlich als Kinderärztin und nicht als Sozialpädagogin oder Juristin.
Frage: Holt das Jugendamt denn ihren Rat überhaupt ein, wenn eine Familie oder ein Kind auffällig wird?
Antwort: Nein. Wir legen viel Wert darauf, dass die Vorsorgeuntersuchungen kontinuierlich gemacht werden. Wenn man von Geburt an die Kinder und ihre Familien kennt, sind wir manchmal die erste Instanz die sagt, hier muss etwas passieren. Oder die sagt, das reicht nicht mehr. Da nehme ich meine soziale Verantwortung sehr ernst. Auch wenn das nicht immer direkt etwas mit Medizin zu tun hat.
Frage: Haben Sie denn viel mit Fragen außerhalb des medizinischen Bereichs zu tun?
Antwort: Ja. Wir können uns ja von der sozialen - emotionalen Entwicklung eines Kindes nicht abschotten. Wollen wir auch nicht. Da kriegen wir auch eine Menge mit. Manchmal nimmt auch das Jugendamt direkt Kontakt mit uns auf, wenn der Verdacht einer körperlichen oder seelischen Vernachlässigung oder Misshandlung im Raum steht. Da will das Jugendamt sich natürlich auch medizinisch absichern.
Frage: Sie sagen, ein Kind, das als im Baby zu Pflegeeltern kommt, hat die Chance, positive Bindungen aufzubauen. Bei älteren Kindern ist es schwieriger. Wie wichtig sind denn ist es denn, positive Bindungen aufzubauen und was heißt „schwieriger" bei älteren Kindern?
Antwort: Bindung ist für jeden von uns wichtig. Niemand kann ohne Freunde, ohne Bekannte oder ohne Nachbarschaft überleben. Bindung ist etwas ganz Wichtiges und hat für mich einen ganz hohen Stellenwert. Die lässt sich bei Säuglingen natürlich deutlich besser aufbauen. Säuglingen fällt es viel leichter, Kontakt mit den Pflegeeltern aufzunehmen und sie als Bezugspersonen zu akzeptieren. Das fällt drei- oder vierjährigen Kindern, die zu einer Pflegefamilie kommen und schon ihre Geschichte haben, naturgemäß viel schwerer. Diese Kinder vertrauen niemandem mehr, wenn sie verprügelt wurden, hungern mussten oder nicht gut gepflegt wurden.
Frage: Was empfehlen Sie Pflegeeltern im Umgang mit traumatisierten oder vernachlässigten Kindern?
Antwort: Die Erwartungshaltung nicht zu hoch schrauben. Es enttäuscht, wenn ein Kind nicht in der Lage ist, die Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die man erwartet. Aber weil es eben auch gar nicht mehr an diese Art der Bindung glaubt. Pflegeeltern brauchen auf jeden Fall ein gutes Coaching. Außerdem halte ich es für enorm wichtig, dass zwischen Pflegeeltern, leiblichen Eltern und den Mitarbeitern des Jugendamtes eine übergeordnete Supervision stattfindet.
Frage: Wie soll man sich das Vorstellen?
Antwort: Hier gibt es starke Befindlichkeitsstörungen. Wenn ein Kind in Obhut genommen wird mit dem Anspruch, es wirklich gut zu machen und man gleichzeitig merkt, dass man an seine Grenzen stößt, wenn die leiblichen Eltern das Sorgerecht haben oder einem vom Jugendamt oder anderen Institutionen auf die Finger geschaut wird. Ich habe oft das Gefühl, dass Pflegeeltern im Ansehen häufig deutlich schlechter abschneiden als die leiblichen Eltern. Darin sehe ich ein erhebliches Problem, dass ich schon wiederholt erlebt habe, Es ist ja nicht nur das Kind, das Bindungen aufbaut. Die Pflegeeltern sind Menschen, keine Roboter. Die Angst haben verletzt zu werden. Die viel von sich offenbaren und immer in der Angst leben, dass das Kind zurück soll zu den leiblichen Eltern.
Frage: Wenn das Kind in der Pflegefamilie angekommen ist, ist die Rückkehr dann aber gleichzeitig auch eine Wegnahme?
Antwort: Ja. Und ich hoffe nicht, dass Pflegeeltern so professionell sind, dass sie das einfach so wegstecken. Dann wären sie auch nicht in der Lage, gute Bindungen aufzubauen.
Frage: Was könnte denn eine, von Ihnen vorgeschlagene Supervision, an dieser Stelle bewirken?
Antwort: Ich denke, bei jedem schwappen Emotionen hoch. Bei den leiblichen Eltern, die sich mit ihrem Versagen in der Betreuung ihres Kindes auseinander setzen müssen. Bei den Pflegeeltern, deren Status nicht eindeutig definiert ist und die nicht viele Rechte haben. Und auch beim ASD, der manchmal allein mangels Personal überfordert ist. Was ich ihm auch nicht zum Vorwurf mache.
Frage: Und Coaching der Pflegeeltern. Was könnte das bewirken?
Antwort: Ich erlebe es häufig, dass ganz unerwartet Pflegeeltern mit ihrem Pflegekind auf der Matte stehen. Nach dem Motto, „wir sind vor einer Woche angerufen worden und nun ist der kleine Schatz da". Ist zwar ganz toll, prima, man freut sich für alle Beteiligten. Aber nichts desto trotz, ist es ja auch ein bisschen eine Überforderung. Alleine die Tatsache, dass die Pflegeeltern nach meiner Erfahrung überhaupt nicht darauf vorbereitet werden, welche Konflikte es mit den leiblichen Eltern geben kann. Ich merke immer wieder, dass Pflegeeltern, Jugendamt und leibliche Eltern nicht harmonisch zusammenarbeiten.
Frage: Was heißt das genau?
Antwort: Es besteht oft ein wahnsinniger Druck, den die Pflegeeltern aushalten müssen. Ich kann nicht verstehen, dass man bei einem Kind, dem wirklich schwerste Gewalt angetan wurde, dennoch daran arbeitet, dieses Kind zu den leiblichen Eltern zurückzuführen. Sowas kann kein Kind jemals verzeihen. Ich verstehe nicht, was da für Interessen hinter stecken. Vielleicht muss man das einfach berufsspezifisch sehen. Ich habe eine Freundin die Juristin ist. Mit der diskutiere ich solche Fälle oft und nicht selten ziemlich kontrovers.
Frage: Wir haben das Gefühl, dass bei misshandelten Kindern und vor allem bei sexuell missbrauchten Kindern, leibliche Eltern weniger Unterstützung erfahren als beispielsweise bei „nur" bindungsgestörten Kindern. Kinder, die am Anfang ihres Lebens keine richtige Liebe, keine richtige Beziehung haben aufbauen können. Dort hören wir oft, das sei ja nicht so schlimm, das könne man alles wieder klären, auch und gerade durch die leiblichen Eltern.
Antwort: Das sehe ich nicht so. Misshandlung ist Misshandlung. Egal auf welcher Ebene sie geschieht. Wenn ein Kind nicht genügend zu Essen kriegt, wenn es keine Kleidung kriegt, wenn keine Reize angeboten werden, niemand mit ihm redet und das Kind schlicht nicht auf den Arm nimmt oder mit ihm kuschelt, ist das genauso schlimm für das Kind wie der Missbrauch oder körperliche Gewalt. Ich kann Ihre Beobachtung so nicht teilen. Ich erlebe auch immer wieder, dass auch körperliche Gewalt an Kindern häufig kein ausreichender Grund ist, Kontakt und Umgang mit den leiblichen Eltern, die das dem Kind angetan haben, herzustellen.
Frage: Erleben Sie auch Pflegeeltern, die ungeeignet sind für die Betreuung eines traumatisierten oder vernachlässigten Kindes? Die lieber das Kind zur Therapie schicken, statt sich selbst fortzubilden?
Antwort: Nein. Hin und wieder sehe ich Pflegeeltern, die psychisch überfordert sind, und unbewusst in einen Kampf, einen Konkurrenzkampf zu den leiblichen Eltern gehen. Es tut aber der Entwicklung eines Kindes gar gut, wenn ihm vermittelt wird, bei den leiblichen Eltern geht es Dir schlecht oder umgekehrt. Ein Kind will loyal sein. Ein Kind will von allen geliebt werden. Wie verhält man sich dann als Kind, wenn man in der Pflegefamilie leben soll und mit den leiblichen Eltern Umgang haben soll, wenn alle immer nur schlecht übereinander reden? Man geht in Deckung. Da ist das Kind voll in einem Loyalitätskonflikt, der ihm sicher nicht gut tut.
Frage: Ist es hier nicht mehr als nur ein Loyalitätskonflikt? Schließlich streiten die Erwachsenen um den Lebensmittelpunkt des Kindes? Da geht es für das Kind doch schon ans Eingemachte?
Antwort: Ja schon. Aber auf was ich hinauswill ist, das grundsätzlich Kinder bei Konflikten unter Erwachsenen nicht in der Lage sind Partei zu ergreifen. Die wollen jedem gefallen, jedenfalls in einem bestimmten Alter.
Frage: Sind Kinder nicht primär loyal zu ihren sozialen Eltern, den Pflegeeltern, vor allem wenn es gar keinen Kontakt zu den leiblichen Eltern gibt?
Antwort: Nein. Aber ich meine auch die Fälle, in denen regelmäßig Kontakt stattfindet. Der soll ja auch etwas bewirken. Der regelmäßige Kontakt sagt oder impliziert ja auch irgendwie so ein bisschen wenigstens, dass mittelfristig oder langfristig daran gedacht wird, dass das Kind zu den leiblichen Eltern zurückkommt. Könnte das Kind zumindest so interpretieren. Das bringt die Kinder jedenfalls manchmal in eine ganz schöne Zwickmühle. Vor allem, wenn leibliche Eltern und Pflegeeltern da nicht auf einem gewissen Niveau miteinander umgehen.
Frage: Und was bedeutet eine solche Zwickmühle für das Kind aus ärztlicher Sicht?
Antwort: Das sind dann so Fälle, in denen ich dazu rate, psychologische oder psychiatrische Unterstützung einzuholen. Um das aufzuarbeiten. Die sind Vertreter des Kindes und können auch mal das Verhalten der Erwachsenen reflektieren und in Beziehung zum Kind setzen. Wenn jemand das professionell macht, wird er oder sie weder für die Pflegeeltern noch für die leiblichen Eltern Partei ergreifen. Es geht dann darum, Strukturen aufzudecken und zu bearbeiten.
Frage: Was kann denn eine therapeutische Unterstützung bewirken?
Antwort: Wenn ein Kleinkind Gewalt erfahren hat, kann man da nicht mit einer Psychotherapie ran. Das geht nur bei älteren Kindern. Vieles geht natürlich über die Pflegeeltern, Familienhelfer oder andere Bezugspersonen der Familie. Gerade Familienhelfer/innen können Pflegefamilien, die mit psychisch tangierten Kindern zusammenleben, sehr unterstützen. Kleinkinder kann man nicht in dem Sinne therapieren. Es kann aber natürlich die Möglichkeit bekommen, seine Gefühle auszuspielen oder darzustellen. Beispielsweise in einer ergänzenden Spieltherapie. Jedenfalls kann man da keinesfalls tiefenpsychologisch oder psychoanalytisch rangehen
Frage: Viele Pflegeeltern sind sehr belastet. Das Zusammenleben mit traumatisierten oder bindungsgestörten Kindern kann sehr hart sein. Wie kann man diese Eltern unterstützen?
Antwort: Auf jeden Fall muss Hilfe früh greifen. Was bei Pflegekindern schwierig sein kann, da sie ja alle schon eine gewisse Prägung mitbringen. Außerdem ist stets zu fragen, ob wir es hier mit einer überwiegend organischen Herausforderung zu tun haben oder ob die Ursachen psychischer Natur sind. Oder ist es etwas psychisches, was sich organisch auslebt. Ist es etwas, dass in eine Depression umschlagen kann oder ist eher Aggressivität die Folge. Bei Kindern, die auch in späteren Jahren noch einkoten oder einnässen, ist auf jeden Fall ein Training wichtig, dass sowohl medizinisch als auch psychologisch begleitet wird. Das gibt es beispielsweise in Bremen, im Klinikum Links der Weser. Kinder die Einnässen, werden dort sowohl psychologisch als auch kinderärztlich urologisch betreut.
Frage: Gibt es dort ein besonderes Angebot für Kinder, die Einnässen?
Antwort: Ja, also ein regelmäßiges Setting, wo sich Kinder treffen, die diese Probleme haben. Das Einnässen ist ja ein sehr stigmatisiertes Thema, Einkoten noch mehr. Es tut den Kindern gut zu merken, dass sie nicht nur alleine das Problem haben, sondern viele andere auch. Hier ist es vollkommen egal, ob es sich um Pflegekinder oder andere Kinder handelt. Das ist eine extreme Belastung für das Kind und die Eltern oder Pflegeeltern. Etwas anderes ist es allerdings, wenn die Kinder wirklich massiv einkoten. Dann bedarf es einer Verhaltenstherapie, die sowohl zu Hause als auch in der Schule oder im Kindergarten ansetzt. Da müssen Schule und Kindergarten auf jeden Fall mit ins Boot. Außerdem müssen diese Kinder medizinisch, in jedem Fall psychologisch und manchmal auch psychiatrisch angebunden werden. Diese Kinder brauchen mit Sicherheit Hilfe. Einkoten und Einnässen ist dabei noch die stille Rebellion. Die laute Rebellion fängt an, wenn sich Jugendliche bewusst von den Pflegeeltern absetzen und straffällig werden. Dann geht oft nichts mehr ohne gute Familienhelfer. Sie dürfen bei einem männlichen, pubertierenden Jungen um Gottes Willen keine kleine, weiche, zart besetzte Pädagogin hinschicken. Das geht schief. Umgekehrt genauso. Manche Kinder müssen zudem stationär betreut werden. Die Fälle gibt es leider auch.
Frage: Für eine Pflegefamilie ist es immer besonders hart, wenn das Pflegekind stationär beobachtet werden muss. Dann verlieren sie das Kind nicht selten dauerhaft.
Antwort: Das stimmt. Und darum muss man von Anfang an offen miteinander reden. Wenn Pflegekinder von Anfang an über die Sorgen, Nöte und Belastungen mit dem Kind sprechen, akzeptieren das auch alle, vor allem das Jugendamt. Dann müssen alle zusammen arbeiten. Davon profitieren Pflegekinder dann am meisten.
Frage: Traumatisierte Kinder brauchen Kraft, Ausdauer, Unterstützung und Zeit bei der Bewältigung der traumatischen Erfahrungen. Wird das nicht behindert, wenn die Beteiligten sehr stark die Themen Umgang mit den leiblichen Eltern und Auseinandersetzung mit der Herkunft in den Vordergrund stellen. Dann hat das Kind doch gar keine Zeit mehr, sich mit seinem Trauma zu beschäftigen.
Antwort: Wir dürfen nicht jedem Pflegekind ein Trauma aufoktroyieren. Wir würden ihm Unrecht tun und jedes Kind geht ja auch anders mit seinem Schicksal um. Manche können das fantastisch. Andere, gerade diejenigen, die wirklich total aus der Bahn gekommen sind, haben da größere Schwierigkeiten mit. Wichtig ist, dass in der Pflegefamilie offen mit dem Thema Herkunft umgegangen wird. Alles andere wäre Betrug an den Kindern. Kinder, die sich in der Pubertät sich ihr Geburtsdatum anschauen und sich dann fragen, war ich wohl nur ein Faschingsscherz. Manche können das Abhaken und sich sagen o.k., war ein toller Faschingsscherz, ich habe es echt gut getroffen. Andere aber hadern da stark mit. Viele junge Menschbrauchen sehr lange um mit diesen Gedanken klar zu kommen. Um mit sich ins Reine zu kommen. Ich würde mir als Kinderärztin aber nie anmaßen, sofort zu sehen, der braucht unbedingt eine Traumatherapie, oder der steckt das so weg, der braucht keine Traumatherapie. Zudem habe ich in meiner Praxis auch nicht täglich mit Pflegekindern zu tun.
Frage: Viele Pflegekinder leiden unter dem FAS Syndrom. Wenn die leibliche Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, kann das beim Kind zu Verhaltensauffälligkeiten, Minderintelligenz oder motorischer Unruhe führen. Manche Pflegeeltern hören dann auf mit dem Kind im Hinblick auf traumatische Vorerfahrungen oder Bindungsproblemen zu arbeiten und Schieben" alles auf das FAS – Syndrom. Was würden Sie hier empfehlen?
Antwort: Es gibt ganz deutliche Kriterien dieses Syndroms. Und die Kinder, die ich betreue und die das FAS – Syndrom haben, haben ganz klar davon profitiert, dass man eine Diagnose hatte. Dass man der Entwicklungsverzögerung einen Namen geben konnte und berechtigt ist, was dagegen zu tun oder bestimmte Forderungen zu stellen. Ich denke mir, oder ich habe die Eltern hier in der Praxis eher so erlebt, dass sie das motiviert hat oder dass das ihre Kompetenz gestärkt hat, dass sie sich im Recht fühlen. Hier müsste schon mehr gemacht werden. Insbesondere das Jugendamt müsste hier intensiver hinschauen.
Frage: Was würden Sie als Ärztin bei der Arbeit mit FAS – Kindern empfehlen?
Antwort: Frühzeitig im heilpädagogischen Bereich eingliedern. Das gibt den Kindern Sicherheit, ein kleineres Umfeld. Später kann man dann weitere therapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie oder Logopädie einleiten. Ich finde es für jeden Patienten wichtig, dass er eine Diagnose bekommt. Ich finde, nichts ist schlimmer, als wenn man weiß, man ist krank und niemand kann einem sagen, was einem fehlt. Das ist ein sehr ungutes Gefühl. Es ist ein Schritt in die Therapie, wenn man weiß, was dem Menschen fehlt. Man wird handlungsfähiger, egal ob als Patient selber, als Pflegeeltern oder als leibliche Eltern. Und man weiß auch, es bringt noch etwas, wenn man mit dem Kind noch andere Einrichtungen aufsucht. Versäumen wir irgendwas, nein wir versäumen nichts, wenn wir wissen, dass es dieses Syndrom ist. Wenn man beispielsweise weiß, dass das Kind eine homosomale Veränderung hat, dann kann man das Kind so wie es ist, leichter akzeptieren und leichter annehmen.
Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass dann die Traumatisierungs- oder Vernachlässigungsarbeit vernachlässigt wird.
Antwort: Das glaube ich nicht. Diese Kinder kommen ja schließlich in ein behütetes sozialpädagogisches Netz. Wenn das eine da ist, schließt es das andere ja nicht aus. Ich habe hier FAS – Kinder, die ganz normal in die Regelschule gehen. Aber ich habe auch FAS - Kinder die eine massive Lernbehinderung haben. Und ein Kind, das eine Lernbehinderung hat, ist psychologisch schwerer zu therapieren. Da kommt man viel schwerer ran, als an ein Kind was keine mentale Behinderung hat.
Frage: Würden Sie sagen, dass Pflegekinder zu viel Pädagogik und zu wenig Psychologie erleben?
Antwort: Das weiß ich nicht. Ich finde in jedem Fall, dass ein Kind auch mal die Möglichkeit haben sollte Ruhe zu haben und nicht immer an ein Trauma erinnert zu werden. Es wird für mich interessant im Jugendalter oder wenn die Kinder Symptome zeigen oder signalisieren, das sie damit Probleme haben. Ich finde es wichtig, dass diese Kinder, die so viel Leid erfahren, in der Gesellschaft ankommen und dort angenommen werden. Sie müssen das Gefühl haben, geliebt zu werden. Dabei ist es zweitrangig, auf welcher Ebene das passiert. Ob pädagogisch oder psychologisch. Manchmal ist die pädagogische Maßnahme, sich einen Hund anzuschaffen die beste psychologische Therapie für ein traumatisiertes Kind.
Frage: Übrigens haben Pflegeeltern überdurchschnittlich viel und oft Hunde.
Antwort: Ich weiß.
Frage: Warum eigentlich?
Antwort: Wenn Kinder lernen mit Tieren umzugehen, ist das für sie etwas ganz Wertvolles. Sie sind alleine dafür verantwortlich. Das hilft ihnen.