Bedeutung von Eltern- und Kindesgrundrechten für Fremdunterbringungsentscheidungen

| Rechte des Pflegekindes und der Pflegeeltern

Die beim Bundesverfassungsgericht für das Familienrecht zuständige Richterin Dr. Britz hat in einem öffentlichen Aufsatz dargestellt, nach welchen Kriterien das Gericht entscheidet, wenn ein Kind aus eine leiblichen Familie herausgenommen und in einer Pflegefamilie untergebracht werden soll. Diese Kriterien gelten grundsätzlich auch dann, wenn es um die Frage einer Rückführung geht. Im Folgenden werden Teile dieses Aufsatzes dargestellt. Erstaunlich ist, dass die Autorin das Recht des Kindes, in der Obhut seiner Eltern aufzuwachsen hervorhebt und sich dabei auf die „ständige Rechtsprechung" des BVerfG beruft. Zitiert wird dann aber eine Entscheidung des BVerfG, die ausdrücklich hervorhebt, dass das Kind ein Recht darauf hat, nicht „zur Unzeit" seinen unmittelbaren Bezugspersonen weggenommen zu werden. Dass Babys und Kleinkinder, die überhaupt keine Beziehung zu ihren leiblichen Eltern haben, weil sie diese niemals kennengelernt haben, ein eigenes Recht darauf haben, bei diesen (Bluts-) Verwandten aufzuwachsen, ist neu.

 

Elternrecht

 

Aufseiten der Eltern ist bei einer Fremdunterbringungsentscheidung das Elternrecht betroffen, das sie insbesondere davor schützt, dass ihr Kind von ihnen getrennt wird (Art. 6 Abs.2 S. 1, Abs. 3 GG). Das Elterngrundrecht tritt in den verfassungsgerichtlichen Fremdunterbringungsentscheidungen stärker hervor als Kindesgrundrechte, weil es regelmäßig den prozessrechtlichen und prüfungstechnischen Aufhänger der Entscheidung bildet. Während es zur (am Kindesgrundrecht anknüpfenden) Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Ablehnung der Fremdunterbringung praktisch kaum kommt, werden fachgerichtliche Entscheidungen für eine Fremdunterbringung regelmäßig von den Eltern unter Berufung auf das Eltergrundrecht im Wege der Verfassungsbeschwerde angegriffen. Dabei schließt der im Elterngrundrecht angelegte Schutz gegen eine Trennung des Kindes von seinen Eltern neben elternnützigen bereits kindesnützige Gehalte ein. Das Elternrecht gilt in der Praxis des BVerfG bekanntlich als fremdnütziges Recht im Dienste des Kindes. Es steht den Eltern aber auch um ihrer selbst willen zu.

 

Kindesgrundrechte

 

Aufseiten des Kindes geht es bei Fremdunterbringungsentscheidungen im Kern um dessen Grundrechte aus Art.2 GG, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die leibliche Unversehrtheit und auch die seelische Integrität schützen. Diese Rechte stehen auch und erst recht den Kindern zu. Muss der Staat entscheiden, ob er ein in seiner Familie gefährdetes Kind aus dieser herausnimmt, sind aufseiten des Kindes gegenläufige Grundrechtsaspekte betroffen. Diese zielen teils in gleiche, teils in entgegengesetzte Richtung wie das Elterngrundrecht.

 

Recht des Kindes auf Schutz "vor den Eltern"

 

Die Grundrechte des Kindes verpflichten den Staat auf der einen Seite, zum Schutz des Kindes einzuschreiten, wenn ihm bei den Eltern aufgrund elterlichen aufgrund elterlichen Erziehungsversagens oder gar direkt von den Eltern Gefahren drohen. Diese in Art. 2 GG enthaltene besondere Schutzverantwortung des Staatesgegenenthaltene besondere Schutzverantwortung des Staates gegenüber Kindern ist in Art. 6 Abs. 2 S.2 GG zusätzlich ausdrücklich als sogenanntes Wächteramt des Staates formuliert; es handelt sich um den seltenen Fall einer textlich verankerten grundrechtlichen Schutzpflicht. Insofern zielen die Grundrechte des Kindes gegebenenfalls auf seine Trennung von den Eltern. Dieser Aspekt des kindlichen Grundrechtsschutzes bildet den zentralen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt von Fremdunterbringungsentscheidungen, weil diese gerade dazu dienen, ein Kind vor Gefahren zu schützen, die ihm bei einem Verbleib bei den Eltern drohten. In der praktisch allein relevanten Prozesskonstellation, dass Eltern unter Berufung auf das Elterngrundrecht eine Verfassungsbeschwerde gegen eine vom Gericht getroffene Fremdunterbringungsentscheidung erheben, ist der grundrechtliche Schutz des Kindes in der verfassungsgerichtlichen Prüfung allerdings nicht der unmittelbare verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab der Entscheidung. Er bildet jedoch den Rechtfertigungsgrund für den Eingriff ins Elterngrundrecht. Ass das Kindesgrundrecht in die verfassungsrechtliche Prüfung als Rechtfertigungsgrund eingeht, nimmt diesem nichts an verfassungsdogmatischem und verfassungspraktischem Gewicht. Diese Prüfungsstruktur ist vielmehr dem deutschen Verfassungsprozessrecht geschuldet, das die Verfassungsbeschwerde subjektivrechtlich ausgestaltet hat (§ 90 BVerfGG), sodass eine elterliche Verfassungsbeschwerde aufgrund des Elterngrundrechts zu führen und vom BVerfG im Ausgangspunkt bezügliches dieses Rechts zu prüfen ist. Einer angemessenen Berücksichtigung der aus den Kindesgrundrechten folgenden Verpflichtung des Staates, Kinder gegebenenfalls vor ihren Eltern zu schützen, steht dies nicht entgegen. Sollten das Elternrecht und das Recht des Kindes auf "Schutz vor den Eltern" im konkreten Fall unversöhnlich aufeinandertreffen, setzt sich der Schutz des Kindes vor seinen Eltern in der verfassungsgerichtlichen Prüfung durch (s. u., 3.). Dies ist in allen erfolglosen Verfassungsbeschwerden von Eltern gegen Fremdunterbringungsentscheidungen und damit regelmäßig in ca. 95 % der vom BVerfG entschiedenen Verfahren der Fall. Hingegen wird die Vereinbarkeit der Verwehrung einer Fremdunterbringung mit dem grundrechtlichen Schutzanspruch des Kindes praktisch so gut wie nie verfassungsgerichtlicher Überprüfung zugeführt. Tatsächlich ist es bislang kaum dazu gekommen, dass im Fall der gerichtlichen Ablehnung einer - sei es auch vom Jugendamt befürworten - Inobhutnahme eines Kindes ein (Interessen-) Vertreter zur Durchsetzung des grundrechtlichen Schutzanspruchs des Kindes Verfassungsbeschwerde erhoben hätte. für die Fachgerichte ändert dies freilich nichts daran, dass sie die für die Trennung des Kindes von seinen Eltern sprechenden Grundrechtsbelange des Kindes zu beachten haben.

 

Recht des Kindes auf Achtung seines Interesses "an den Eltern"

 

Gegenläufig zur Notwendigkeit, die Kindesgrundrechte gegebenenfalls durch Trennung des Kindes von seinen Eltern zu schützen, bedeutet die Trennung des Kindes von seinen Eltern kurz- und langfristig regelmäßig auch eine Belastung des Kindes, die es ebenfalls in Rechnung zu stellen gilt. Auch hier greifen Kindesgrundrechte. Insoweit laufen die Kindes- und die Elterngrundrechte im Wesentlichen parallel. Bei einer Trennung des Kindes von den Eltern kommt das spezifische Recht des Kindes zum Tragen, in der Obhut seiner Eltern aufwachsen zu können. Das BVerfG geht in ständiger Rechtssprechung davon aus, dass es im Grundsatz dem Wohl des Kindes entspricht wenn es sich in der Obhut seiner Eltern befindet. Dem Grundgedanken folgend, dass in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution, hat das Grundgesetzt in Art. 6 Abs.2 S. 1 GG die Zuständigkeit für die Wahrnehmung der notwendigen Schutz- und Hilfsverantwortung für ein Kind in erster Linie den Eltern zugewiesen, womit ein subjektives Recht des Kindes auf staatliche Gewährleitung elterlicher Pflege und Erziehung korrespondiert (Art.2 Abs. 1 i.V. mit Art 6 Abs. 2 S. 1 GG). Eine Trennung des Kindes von der Familie gilt dem Grundgesetz, wie Art 6 Abs. 3 GG zu erkennen gibt, als besonders prekär und darf deshalb auch im grundrechtlich geschützten Interesse des Kindes nur bei nachhaltiger Gefährdung des Kindes erfolgen. Vorrangig sind Maßnahmen zu ergreifen, die ermöglichen, dass das Kind bei seinen Eltern leben kann (vgl. § 166a BGB). Die Voraussetzungen einer Fremdunterbringung sind also auch im Interesse des Kindes streng. Ob das Kind bei den Eltern in nachhaltige Gefahr geraten ist, bedarf sorgfältiger Prüfung. Selbst wenn eine Gefahr besteht, ist immer noch zu fragen, ob die Vorteile einer Herausnahme wirklich gegenüber den Nachteilen der Trennung für das Kind überwiegen.

 

Ausgleich

 

Die Freundunterbringungsentscheidung ist also im Hinblick auf die kindesgrundrechte an gegenläufigen Aspekten des Kindeswohls auszurichten; die für die Trennung sprechenden Aspekte des Kindeswohls sind mit den gegen die Trennung sprechenden Aspekten abzuwägen. Das ebenfalls zu berücksichtigende Elternrecht läuft mit dem zweiten Kindeswohlaspekt im Wesentlichen parallel. Dabei müssen die Elterngrundrechte nach dem Grundgesetz zurücktreten, wenn es zur unauflösbaren Konfrontation von Elterngrundrechten und gegenläufigen Kindesgrundrechten kommt. Weil die Kinder in der verletzlicheren Position sind und die Eltern in solchen Konfrontationsfällen regelmäßig als diejenigen ausfallen, die normalerweise für die Rechte ihrer Kinder einstehen, muss sich der Staat hier im Zweifel vorrangig dem Schutz der Kindesgrundrechte annehmen.