Sicherheit und Verlässlichkeit sind wichtiger als Umgang mit der Herkunftsfamilie

| Leibliche Eltern, Rechte des Pflegekindes und der Pflegeeltern

Wird ein das Kind mit Zustimmung der leiblichen Eltern in eine Pflegefamilie vermittelt, behalten diese in aller Regel ihr Sorge- und Umgangsrecht.

 

Diese Praxis verkennt, dass diese "Erziehungshilfe" häufig zum Schutz des von den Eltern bereits geschädigten Kindes nötig wird. Zweitens bleibt das Erleben des Kindes unbeachtet, welches im Laufe der Jahre (hoffentlich) zum Kind anderer Eltern, zum Mitglied seiner neuen Familie wird.

 

Die Rechte leiblicher Eltern werden selbst dann nicht eingeschränkt oder entzogen, wenn sie ihr Kind seelisch und/oder körperlich misshandelt haben. Es zählt allein ihre vordergründige Einwilligung in die Unterbringung. Nicht selten führt dies zur dauerhaften Unterbringung junger Kinder im Heim, nicht aus Gründen des Kindeswohls, sondern weil die Eltern keine Familie akzeptieren. Das auf Dauer in der Ersatzfamilie lebende Kind, das bei gelingender Integration faktisch zum Kind dieser Familie werden kann, bleibt so rechtlich an die misshandelnden oder vernachlässigenden Eltern gebunden, deren Bedürfnisse und Wünsche im Konfliktfall entscheidend sind.

 

Dem Risiko der Verleugnung, der offengehaltenen Rückkehroption, der Kontakte zu Eltern und anderen Verwandten, die den Anspruch auf eine Rückkehr des Kindes nicht aufgeben, ist mit dieser Praxis Tür und Tor weit geöffnet. Die Trennungsdrohung bleibt allgegenwärtig und überschattet das Zusammenleben des Kindes mit seinen neuen Eltern und Geschwistern - oft über Jahre, manchmal eine ganze Kindheit lang.

 

Was kann ein Kind, was können seine Pflegeeltern in einer solchen rechtlich weitgehend ungeschützten Situation tun? Was liegt näher als die Anpassung an die Wünsche und Bedürfnisse der leiblichen Eltern sowie an die Erwartungen eines Jugendamtes, das pflichtgemäß auf eine sogenannte "Zusammenarbeit" zwischen Pflegeeltern und Eltern (§ 37 SGB VIII) hinwirken soll?

 

Das führt zu einem oftmals langjährigen Anpassungszwang. Dieser beruht auf der Urangst des Kindes vor einem Verlust geliebter Eltern. Auch normale entwicklungsbedingte Krisen und Konflikte des Kindes erhalten durch die dauernd aktivierte Trennungsdrohung eine existenzielle Dimension. Probleme in der Schule und für die Entwicklung notwendige (auch aggressive) Auseinandersetzungen mit der Pflegefamilie bergen durch ungesicherte Pflegeverhältnisse eine potenzielle Sprengkraft, die sich schädigend auf ein Kind und seine psychosoziale Entwicklung auswirkt.

 

Bis heute wird leiblichen Eltern in der Regel die volle Entscheidungsmacht auch über jene Kinder belassen, die lange schon nicht mehr bei ihnen leben. Noch immer behalten sie weitreichende Rechte auf Umgang und steht ausgesprochen oder unausgesprochen jahrelang die sogenannte "Rückführung" im Raum, die ihnen die Verabschiedung aus ihrer Rolle als Eltern unmöglich macht. Weiterhin sollen Kinder in Dauerpflege auch nach Jahren noch "umgewöhnt" oder "zurückgeführt" werden - wird ihren Pflegeeltern "Bindungstoleranz" und "Mitarbeit" abgefordert, wie auch immer das Herausreißen eines Kindes aus einer befriedigenden Eltern-Kind-Beziehung im Fachjargon eben umschrieben wird.

 

Einen ersten Schritt in die richtige Richtung bietet die Möglichkeit einer gerichtlichen Verbleibensanordnung. Nur der geringste Teil der Dauerpflegekinder erhält aber diese Gewissheit. Und der Preis dafür ist viel zu hoch: Die Gerichtsverfahren dauern und können für das Kind und seine Pflegefamilie seelisch zermürbend sein. Selbst im Erfolgsfall kann dem Kind vom Familiengericht ein dauerhafter Aufenthalt in seiner Ersatzfamilie nicht versprochen werden, es bleibt der Vorbehalt der gerichtlichen Überprüfung (§ 1696 BGB).

 

Pflegekinder sind Kinder, deren elementares Bedürfnis nach liebevoller Zuwendung und zuverlässiger Versorgung seitens ihrer Eltern chronisch missachtet wurde. Es sind häufiger Kinder, die durch unzureichende Versorgung oder Gewalt von den eigenen Eltern in Todesangst versetzt wurden. Vielfach mussten diese Kinder auch nach Bekanntwerden ihrer Gefährdung oft über Monate oder Jahre weitgehend schutzlos in ihren Familien weiterleben, bis schließlich alle ambulanten Maßnahmen als gescheitert galten.

 

Diese Pflegekinder brauchen in der Folge in besonderer Weise bedingungslose Annahme, Fürsorge und Schutz sowie Unterstützung bei der Realisierung und Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen. Nicht zuletzt, um selbst liebevollere Eltern werden zu können und vor dem Elend der blinden Wiederholung von Deprivation und Gewalt geschützt zu sein.

 

Nach Jahren der staatlich of tolerierten unzureichenden Versorgung und Förderung, der Rollenumkehr und nicht selten auch der Misshandlung in der Herkunftsfamilie, hat ein Pflegekind das Recht auf die Erfahrung liebevoller Eltern-Kind-Beziehungen.

 

Es kann einem chronisch misshandelten Kind gelingen, sich mit seinen Pflegeeltern den wiederbelebten Leiderfahrungen seiner Vergangenheit zu stellen. Es kann ihm auch gelingen, seine Überanpassung aufzugeben und sich den Pflegeeltern in einer kindlichen Abhängigkeit anzuvertrauen. Die großen Anstrengungen und Belastungen, die dem Kind uns seiner Ersatzfamilie nach traumatischen Vorerfahrungen für eine solche Integration abverlangt werden, sind eindrücklich beschrieben worden - besonders in dem empfehlenswerten Pflegekinderbuch von Nienstedt und Westermann.

 

Mehr noch als für jedes andere Kind muss man nach einer solchen Vorgeschichte fordern, dass Staat und Gesellschaft alles tun, eine so wertvolle und mühsam entwickelte Beziehung zu schützen und nicht etwa mutwillig zu zerstören. Dem Kind aus seiner angstmotivierten Bindung an die Herkunftsfamilie heraus zu helfen, statt die Überanpassung durch hoch belastende Besuchskontakte und die präsent gehaltene Möglichkeit einer Rückführung noch zu forcieren. Misshandelte Kinder brauchen dauerhaften Schutz vor den beängstigenden Eltern, einen stabilen rechtlichen Rahmen und fachliche Unterstützung der Jugendämter für eine gelingende Integration in ihre Ersatzfamilie, für ein neues Zuhause.

 

Wir brauchen Jugendämter, die den Mut haben, dem Kind schon mit der Vermittlung in die neue Familie die Weichen für seinen Verbleib zu stellen. Wir brauchen Richter, die in der Lage sind, sich in die Schuhe eines Kindes zu stellen, dass seinen (Pflege-) Familie verlieren soll, weil es von Menschen herausverlangt wird, mit denen es kaum oder nie gelebt oder sogar chronische Vernachlässigung und lebensbedrohliche Gewalt erlebt hat. Wir brauchen ebenso die längst überfällige Entwicklung von Konzepten, die den leiblichen Eltern bei der Verarbeitung und der Lösung aus der Elternrolle Unterstützung bieten. Wir brauchen eine Gesetzgebung, die es der Jugendhilfe und der Justiz ermöglicht, Kindern in Fremdunterbringung dauerhafte Perspektiven zu eröffnen und nicht nur fachlich, sondern auch menschlich richtig zu handeln.