Die sieben aus Karlsruhe
Im Moment wabern sieben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Thema elterliche Sorge durch die Fachwelt. Richter/innen der Familiengerichte verweisen auf eine „neue Rechtsprechung". Die elterliche Sorge der leiblichen Eltern habe wieder mehr Bedeutung. Rückführungen seien nun leichter möglich. Pflegekinder haben dadurch keinen dauerhaften Bestand mehr. Auch Pflegeeltern sind verunsichert. Jugendämter versuchen unter Verweis auf die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch aggressiver Umgangswünsche der leiblichen Eltern durchzusetzen.
Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2014 sieben Entscheidungen getroffen, die sich mit der elterlichen Sorge leiblicher Eltern beschäftigen. In allen sieben Fällen wurden Entscheidungen verschiedener Oberlandesgerichte mit der Maßgabe aufgehoben, sich noch einmal ganz genau zu überlegen, ob hier wirklich ein Entzug der elterlichen Sorge angezeigt war.
In allen sieben Fällen hat nicht der zuständige Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, sondern „nur" die aus drei Richtern bestehende Kammer des 1. Senats. In allen sieben Fällen wurden Mängel im Verfahren gerügt und veranlasst, dass diese aufgehoben werden. Dabei hat sich das Bundesverfassungsgericht sehr weit aus dem Fenster gelehnt in Bezug auf die Klärung des Sachverhaltes. Im Geiste eines „obersten Bundesgerichts" wurde teilweise sehr dezidiert dargelegt, wie in diesem oder jenem Fall zu entscheiden wäre. Die verfassungsrechtliche Relevanz trat dabei teilweise etwas sehr in den Hintergrund. So hat sich das BVerfG in der vielzitierten Entscheidung vom 19. November 2014 (1 BvR 1178/14) sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Anforderungen an ein Sachverständigengutachten zu stellen sind. Hier hatte das Amtsgericht ein wirklich mangelhaftes Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Das zuständige Oberlandesgericht hatte das Urteil ohne mündliche Anhörung durch gewunken. Das hat das BVerfG nicht mitgemacht und die Sache an das OLG zurückverwiesen.
Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass durch die sieben Kammerentscheidungen des BVerfG im Jahr 2014 zum Thema elterliche Sorge keine Änderung der Rechtsposition von Pflegekindern entstanden ist. Die letzte Senatsentscheidung des BVerfG zum Thema Pflegekind und Verbleib vom 31. März 2010 FamRZ 2010, S. 865ff.) zeigt ganz deutlich auf, unter welchen Voraussetzungen über den Verbleib eines Dauerpflegekindes in der Pflegefamilie zu entscheiden ist. Dort heißt es u.a.:
Bei einer Entscheidung nach § 1632 Abs. 4 BGB muss sowohl dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz eins GG als auch der Position des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung getragen werden. Im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG bildet jedoch immer das Kindeswohl den Richtpunkt. Daher muss letztlich das Wohl des Kindes bei Interessenkonflikten zwischen dem Kind und seinen Eltern bestimmend sein (...). Wächst ein Kind in einer Pflegefamilie auf, so gebietet es das Kindeswohl, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtspositionen des Kindes noch hinnehmbar sind (...).
Die in den genannten sieben Entscheidungen (mit) zuständige Richterin des BVerfG, Frau Prof. Dr. Gabriele Britz hat in einem Aufsatz selbst noch einmal betont, dass mit diesen Entscheidungen keine Änderung der Rechtsprechung eingetreten ist. Dort (DAS JUGENDAMT, Heft 11 aus 2014, S. 550 ff.) 2015, S. heißt es u.a.:
Im Sommer des Jahres 2014 war einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts (Destatis) zu entnehmen, dass die Zahl der Inobhutnahmen von 2008 bis 2013 von 32.253 auf 42.123 um 30 % gestiegen ist. In den Frühjahrs- und Sommermonaten desselben Jahres hat das BVerfG in sieben Verfahren Verfassungsbeschwerden von Eltern stattgegeben, die sich im Kern gegen die Fremdunterbringung ihrer Kinder wandten. Während sich bereits aus den bloßen Inobhutnahme-Zahlen von Destatis eine Entwicklung ablesen lassen dürfte, ist dies bei der Zahl stattgebender Beschlüsse des BVerfG in Fremdunterbringungsverfahren nicht der Fall. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sich aus dem bloßen Umstand, dass das BVerfG hier innerhalb von sieben Monaten siebenmal einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben hat, so gut wie nichts ableiten lässt.
Was sich aus der Anzahl von sieben Stattgaben ableiten oder nicht ableiten lässt, ist allerdings nur zu erkennen, wenn man die Gesamtzahl einschlägiger Verfahren des BVerfG betrachtet. Für Außenstehende ist dies praktisch nicht möglich. Wie viele Verfahren mit einem inhaltlichen Bezug zur Fremdunterbringung vom BVerfG entschieden werden, ist keiner offiziellen Statistik zu entnehmen. Außenstehende können dies auch nicht anhand einer Auswertung der entschiedenen Fälle zu ermitteln. Ganz überwiegend handelte es sich bei den Fremdunterbringungsentscheidungen des BVerfG um Nichtannahmebeschlüsse der Kammer. Das BVerfG begründet seine Nichtannahmeentscheidungen in den meisten Fällen aber nicht, sodass anhand der Entscheidung in aller Regel nicht erkennbar ist, über welche Rechtsfragen und Sachverhalte in einer Verfassungsbeschwerde entschieden wurde. So wurden im Jahr 2013 nur 245 von 6.007 Nichtannahmeentscheidungen mit Gründen versehen. Letztlich kann unter diesen Umständen nur das BVerfG selbst feststellen, wie viele Entscheidungen zu welchem Rechtsproblem getroffen werden. Eine umfassende statistische Auswertung findet allerdings auch intern nicht statt. Die folgenden Angaben beruhen daher überwiegend auf erneuter Durchsicht der Akten von Verfassungsbeschwerden der letzten Jahre aus dem Familienrecht. Fehlzählungen und -zuordnungen sind dabei nicht auszuschließen.
Vergleicht man die quantitative Entwicklung von Fremdunterbringungsfällen und Stattgaben, ergeben sich keine besonderen Auffälligkeiten. Grob lässt sich feststellen, dass mit der Zahl der Eingänge auch die Zahl der Stattgaben gestiegen ist. Als am auffälligsten mag hier einerseits das Jahr 2009 angesehen werden, in dem bei der geringsten Zahl an Eingängen (43) die höchste Zahl der Stattgaben (5) zu verzeichnen ist und andererseits das Jahr 2012, in dem bei einer erhöhten Eingangszahl von 56 nur eine Stattgabe erfolgte. Die Jahre 2013 und 2014 sind hingegen bislang eher unauffällig. Ohnehin sind all diese Zahlen zu klein, als das sich daraus sinnvoll Schlussfolgerungen ziehen oder gar politischer Handlungsbedarf ableiten ließe.
Tatsächlich waren und sind die meisten der überprüften Gerichtsentscheidungen verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden. Die Zahl der Stattgaben liegt hier freilich geringfügig über dem durchschnittlichen Erfolgswert sonstiger Verfassungsbeschwerden, von denen in den letzten Jahren regelmäßig deutlich weniger als 2 % erfolgreich waren. Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass in Fremdunterbringungsverfahren nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ein strengerer Prüfungsmaßstab zur Anwendung kommt und eine intensivere verfassungsgerichtliche Kontrolle erfolgt. Jugendämter und Familiengerichte haben einerseits des verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ausdrücklich formulierten Auftrag, den durch die Kindergrundrechte (insb. Art. 2 Abs. 1 und 2 GG) vorgegebenen Schutzauftrag des Staats für das seelische und leibliche Wohl des Kindes zu realisieren. Auf der anderen Seite verletzt eine unnötige Trennung eines Kindes von seinen Eltern das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und das Grundrecht des Kindes auf die Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) erheblich. In der Rechtssprechung des BVerfG gilt eine unnötige Trennung von Kind und Eltern seit jeher als besonders schwerer Grundrechtseingriff.
In den jüngsten Kammerentscheidungen ist diese Rechtsprechung in den wesentlichen Inhalten unverändert fortgeführt worden - mit einer gewissen Aufmerksamkeitslenkung hinzu den, vor dem spezifischen Schutzauftrag der Jugendämter noch wichtigeren, Grundrechten der Kinder, die durch eine unnötige Trennung von ihren Eltern mindestens so schwer getroffen sind wie die Eltern.