Gegenüberstellung der Pflegekinderhilfe in Deutschland und in England
(Text zur Verfügung gestellt von Institut für Vollzeitpflege und Adoption (IVA) e.V. - KomJu 3-2014)
Im Rahmen einer vom 23.3. - 02.04.2014 durch England führenden Studienreise hatte ich die Möglichkeit das Kooperationsprojekt „Rückkehrprozesse von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilie" und daraus resultierende aktuelle Forschungsergebnisse vorzustellen und mit hochkarätigen Kollegen aus der englischen Forschungsszene zu diskutieren, die ebenfalls zu unterschiedlichen Themen der Hilfen zur Erziehung arbeiten.
Dabei konnte ich, wie erwartet, thematische Ähnlichkeiten der Pflegekinderhilfe in England feststellen, aber auch eine ganze Reihe von interessanten Unterschieden. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede möchte ich im folgenden Text kurz vorstellen, weil dadurch nach meinem Eindruck ein reflektierender Blick auf die eigene Tätigkeit und die bestehende Situation in Deutschland (Standards, Grundsätze, vorherrschende Überzeugungen etc.) möglich wird, der über den nationalen Tellerrand herausragt.
Fremdunterbringung von Kindern
Die englischen Kolleginnen und Kollegen waren immer sehr überrascht, wenn sie erfahren haben, dass in Deutschland ungefähr die Hälfte aller fremduntergebrachten Kinder und Jugendlichen in Heimeinrichtungen (residental care) lebt. In der englischen Jugendhilfe werden lediglich ca. 10% der Kinder und Jugendlichen in Heimeinrichtungen untergebracht. Das Ansehen öffentlicher Heimerziehung ist sehr schlecht. Ein Vergleich zu Deutschland ist nicht ohne weiteres möglich, weil die Heimerziehung in England sehr viel weniger ausdifferenziert und professionalisiert ist. Dafür ist die Pflegekinderhilfe (family foster care) in England im Vergleich zu Deutschland insgesamt weiterentwickelt.
Das scheint auch damit zusammenzuhängen, dass es auf nationaler Ebene verbindliche fachliche Standards gibt. Ein föderal organisiertes System wie in Deutschland, das dazu führt, dass es zwischen den Bundesländern und Kommunen erhebliche Qualitätsunterschiede und fehlende professionelle Verbindlichkeiten gibt, löst Verwunderung aus.
Bedeutung von Kinderschutz
Öffentliche und fachliche Debatte hinsichtlich der Aufgaben und Zuständigkeiten von Sozialen Diensten werden in England von Kinderschutzthemen dominiert. Dies wird bis in die Namen vieler Sozialer Dienste ersichtlich, die sich häufig als „child-protection-services" verstehen.
In Diskussionen mit Fachleuten wurde kritisiert, dass sich das Hilfesystem nicht an den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern dass die Angst vor Kindeswohlgefährdungen das praktische Handeln zu stark leitet. Die Dominanz von Kinderschutzthemen führe zu z.T. hysterischen Kontrollbedürfnissen der Fachkräfte, die dabei nicht nur die Kinder und Jugendlichen schützen, sondern auch versuchen würden, sich selbst zu schützen und ihre Entscheidungen so abzusichern, dass ihnen im Zweifel keine Vorwürfe gemacht werden können. Als Folgen der damit verbundenen Entwicklungen wurde beschrieben, dass sich die Kontrollbedürfnisse von Sozialarbeitern deutlich erhöhen und gleichzeitig „riskante" Themen zunehmend tabuisiert würden. So würde beispielsweise keine fachliche Debatte über die Sexualität und Liebesbeziehungen von Jugendlichen geführt, weil sich keiner an das Thema herantraue.
Der vergleichende Blick nach Deutschland zeigt nach meinem Eindruck gerade bei dem Thema Sexualität deutliche Parallelen. Die hier geführte Debatte über Kinderschutzthemen wirkt hingegen (bis auf Einzelfälle) noch verhältnismäßig sachlich - ein Adjektiv, das mir ohne den Eindruck aus England in diesem Zusammengang nicht eingefallen wäre.
Die renommierten Forscher Ian Sinclair und Roger Bullock - mittlerweile im „Un-Ruhestand" - wiesen darauf hin, dass das gesellschaftliche Ansehen von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in England durch die intensivierte Kinderschutzdebatte stark gestiegen sei. Ironisch merkten sie an, dass nun alle Bürgerinnen und Bürger wüssten, warum sie die Soziale Arbeit finanzieren müssen: damit die Kinder geschützt werden.
Sie forderten mich dazu auf, wachsam zu bleiben und genau zu beobachten, welche Entwicklung die Kinderschutzdebatte in den nächsten fünf Jahren in Deutschland nehmen wird und welche sozialarbeiterischen Aufgaben dafür in den Hintergrund treten werden.
Sie selbst schienen von den weitreichenden Entwicklungen in England, die man zuvor schon in den USA habe beobachten können, nachhaltig überrascht und stehen den Entwicklungen in England kritisch gegenüber.
Nach ihrem Eindruck sei eine Folge, dass sich mittlerweile keiner mehr trauen würde, innovative neue Modelle auszuprobieren, weil man keine Fehler machen dürfe und man sich stattdessen immer neue Begriffe für altbekannte Ideen einfallen ließe.
Für die praxisrelevante Forschung bedeute dies in England eine Abkehr von fortschrittlichen und richtungweisenden Modellprojekten hin zu reinen Monitoring-Prozessen, in denen lediglich alles beobachtet und festgehalten wird, was sich beobachten lässt.
Nachfolgend möchte ich einen kurzen Überblick über bedeutsame Themen der Pflegekinderhilfe in England darstellen, der die weiteren Untersuchungsvorhaben der Forschungsgruppe Pflegekinder zukünftig begleiten wird:
Verwandten- und Netzwerkpflege (kinship-care)
Die englische Pflegekinderhilfe hat sich bereits intensiv mit den besonderen Chancen und Risiken von Netzwerkpflegefamilien auseinandergesetzt. Die Wissensbestände aus englischen Untersuchungen deuten - ähnliche wie südeuropäische Untersuchungen - darauf hin, dass die Entwicklung von Pflegekindern in verwandten Pflegeverhältnissen vergleichbar gut sei wie in nicht-verwandten Pflegeverhältnissen. Auch in England scheint allerdings nach wie vor ein großer Bedarf zu bestehen, Vorurteile gegenüber Verwandten- und Netzwerkpflegefamilien abzubauen und geeignete Konzepte für die gute Begleitung und Betreuung dieser Familien zu entwickeln.
Migration und Religion
In der englischen Pflegekinderhilfe bestehen bereits fachliche Orientierungsmittel und Routinen im Umgang mit migrationsspezifischen Themen. Beispielsweise gibt es Konzepte zur Arbeit mit Sinti und Roma-Familien sowie zur Arbeit mit (unbegleiteten) minderjährigen Flüchtlingen, die aus Krisengebieten nach England einreisen.
Gerade in den urbanen Regionen Englands besteht kein Zweifel daran, dass man auch Antworten auf die Fragen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Pflegeeltern aus anderen Kulturkreisen finden muss, die sich z.B. auf religiöse Besonderheiten beziehen.
In Deutschland stehen wir seit der medienwirksamen Debatte, die von der türkischen Regierung hinsichtlich der Vorwürfe einer Christianisierung türkischer Kinder in deutschen Pflegefamilien ausgelöst wurde, erst am Anfang einer solchen Fachdiskussion.
Trainings für Pflegeeltern
Interessant ist außerdem, dass es einen recht großen Markt für Fortbildungen, Fachliteratur und Trainingsprogramme für Pflegeeltern zu geben scheint (vgl. BAAF-Verlag: www.baaf.org.uk). Ob die manchmal rezeptartigen Empfehlungen der Programme immer hilfreich sind, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Die systematische Aufarbeitung von aktuellen Wissensbeständen in sehr konkreten Orientierungsleitlinien für Pflegeeltern und Fachkräften hat mich allerdings stark beeindruckt.
Zusammenarbeit mit und Unterstützung von Herkunftseltern
In England scheint ein breiter Konsens über die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit mit den Eltern von fremduntergebrachten Kindern zu bestehen. Die Betreuung und Begleitung von Pflegeverhältnissen umfasst auch die Zusammenarbeit mit den Eltern, die nach dem Geschmack einiger Fachleute in der Realität noch zu wünschen übrig lässt.
Theoretisch soll, bei einer bestehenden Rückkehroption (Reunification), in den ersten ein bis maximal zwei Jahren mit den Eltern intensiv an einer Verbesserung der Erziehungs- und Lebensbedingungen in der Herkunftsfamilie gearbeitet werden. Wenn sich die Situation in der Herkunftsfamilie dennoch nicht verbessern lässt und eine Rückkehr keine Erfolgsaussichten hat, schalten die Sozialen Dienste im englischen System sehr eindeutig auf das Modell der kontinuitätssichernden, dauerhaften Planung (permanency planning) um. Dadurch soll ein langfristige Perspektivplanung sichergestellt werden, die im Unterschied zu Deutschland als letztes Mittel auch eine Zwangsadoption (ohne Einverständnis der Eltern) von Pflegekindern ermöglicht.
Wenn in Deutschland über die Forderungen zur Einführung eines „permanency plannings" diskutiert wird, dürfen wir daher nicht außer Acht lassen, dass damit zum einen eine erhebliche Intensivierung der Zusammenarbeit mit und Unterstützung von Herkunftsfamilien verbunden sein müsste und zum anderen die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland keine Optionen zur Zwangsadoption bereithalten.
Die konkrete Auseinandersetzung mit englischen Forscherinnen und Forschern über unsere aktuellen Forschungsergebnisse zum Thema „Rückkehr" führte zu einer deutlichen Erweiterung der Entwicklung unserer praxisrelevanten Konsequenzen und des im Herbst verfügbaren Abschlussberichts. Unsere eigenen Ergebnisse konnten dadurch mit internationalen Erkenntnisse und Forschungsarbeiten verglichen werden.
Während der Studienreise wurde in allen Diskussionen deutlich, dass die Pflegekinderhilfe konsequent die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und schließlich auch der beteiligten Erwachsenen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen sollte.
Außerdem wurde die Notwendigkeit betont, dass Fachkräfte aus Theorie und Praxis im intensiven Austausch möglichst im Rahmen von Fallwerkstätten die Pflegekinderhilfe weiterentwickeln sollten. Dabei dürfe möglichst keine zu starke Ausrichtung an extrem ungünstigen Fallverläufe erfolgen, da man auf dieser Grundlage nur schlechte Praxis entwickeln könne („bad cases make bad policies").