Dauerhafte Rückkehroption

| Gerichtsurteil, Rechte des Pflegekindes und der Pflegeeltern

In seiner letzten Entscheidung, die sich mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Verbleibs oder der Rückführung eines Pflegekindes zu befassen hatte, konkretisierte das Bundesverfassungsgericht die Grenzen, die bei einer Rückführung aus Sicht des Kindeswohls nicht überschritten werden dürfen:

 

"Die Risikogrenze hinsichtlich der Prognose möglicher Beeinträchtigungen des Kindes ist allerdings auch bei der Entscheidung über eine Rückführung des Kindes zu seinen Eltern dann überschritten, wenn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern psychische oder physische Schädigungen nach sich ziehen kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nicht hinnehmbar."

 

Soll heißen: Bei Interessenkonflikten zwischen dem Kind und seinen Eltern bildet das Wohl des Kindes den Richtpunkt und muss letztlich bestimmend sein. In einem derartigen Fall besteht dann auch keine Rückführungsoption mehr. Das Pflegekind soll eben gerade nicht dauerhaft in einem Schwebezustand leben und jederzeit mit der Möglichkeit der Rückführung leben. Sowohl die Rückführung selbst, als auch die (theoretische) Rückkehroption sind ausgeschlossen, wenn das Kindeswohl einen solchen Schritt verbietet.

 

Warum sollte auch ein fest in einer Pflegefamilie verwurzeltes Kind, welches zudem aufgrund seiner Lebensgeschichte als besonders belastet gelten muss, dazu gebracht werden, seine existenziellen Bindungen unter Inkaufnahme erheblicher Risiken aufzugeben? Dies fordern weder das Gesetz noch das Bundesverfassungsgericht, noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHMR).

 

Beide Gerichte stellen den Vorrang des Kindeswohls nicht in Frage. Der EuGHMR hebt wiederholt hervor, dass ein

 

"Elternteil aufgrund von Art. 8 EMRK [. . .] unter keinen Umständen Maßnahme verlangen darf, die die Gesundheit des Kindes und seine Entwicklung beeinträchtigen."

 

In der bislang vorliegenden fachgerichtlichen Rechtsprechung gewann allmählich die Erkenntnis Oberhand, dass hohe und unkalkulierbare Risiken für Kinder nicht in Kauf genommen werden dürfen, weil auch ihre Menschenwürde und ihre Persönlichkeitsentwicklung unter dem Schutz der Verfassung stehen.

 

Darum ist in familiengerichtlichen Verfahren und in Gesprächen mit den zuständigen Jugendämtern immer wieder darauf hinzuweisen, dass eine dauerhafte Lebensperspektive eines Kindes nicht durch Aktivitäten (Umgang, Auskünfte, Bilder, Nachfragen), die zu weiteren Verunsicherungen des Kindes führen gefährdet werden darf. Hier werden die leiblichen Eltern ja oftmals geradezu ermutigt ihre Haltungen nicht aufzugeben, sondern an dem Rückführungswillen festzuhalten. In erster Linie wären für die Eltern Interventionen hilfreich, die es ihnen ermöglichen, sich mit den Lebenstatsachen zu arrangieren und eine neue Rolle zu finden, die sie aus der Sicht des Kindes nicht mehr als Bedrohung erscheinen lässt. Diese Annäherung durch Verzicht könnte und müsste das Thema einer Intervention sein.

 

Ein Kind hat ein grundlegendes Bedürfnis nach Kontinuität und gesicherter, harmonischer Familienbindung. Es darf keinesfalls über Jahre hinaus die endgültige Unterbringung des Kindes offen gehalten werden und seine familiäre Zuordnung in der Schwebe gelassen werden. Die Voraussetzungen für eine etwaige Rückkehr des Kindes in die Herkunftsfamilie müssen in vor allem für jüngere Kinder überschaubaren Zeiträumen erreicht werden. Andernfalls gilt es, die Kontinuitätssicherung in der bereits bewährten Pflegefamilie umzusetzen.

 

Die Vorgaben des Sozialrechts sind eindeutig:

 

"Ist eine nachhaltige Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraums nicht erreichbar, so soll mit den beteiligten Personen eine andere, dem Wohl des Kindes [. . .] förderliche und auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden" (§ 36 Abs. 2 S. 2, 4 SGBVIII).

 

Im Gegensatz zu der in der Kommentarliteratur verbreiteten Ansicht, dass über Verbleibensanordnungen gemäß § 1632 Abs. 4 BGB bewährte Pflegekindschaftsverhältnisse auch auf Dauer abgesichert werden können, vertreten Familiengerichte immer wieder die Auffassung, dass auch nach einer Verbleibensanordnung die Rückkehroption stets offengehalten werden muss. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Pflegeverhältnisse stets nur auf Zeit eingerichtet seien und Pflegeeltern und Pflegekinder stets damit rechnen müssen, dass das Kind in den Haushalt der leiblichen Eltern (gemeinsam oder einzeln) geführt wird (in Form der echten Rückführung oder in Form der erstmaligen Zusammenführung).

 

Damit ist ein dringender rechtspolitischer Handlungsbedarf für das Kindschaftsrecht im BGB aufgezeigt, denn die eindeutigen Ziele des SGB VIII, Schwebezustände möglichst bald zu beenden, um eine

 

"auf Dauer angelegte Lebensperspektive"

 

zu erreichen, laufen ohne eine familienrechtliche Entsprechung ins Leere. Da das aufgezeigte Konzept des SGB VIIII erstens den humanwissenschaftlichen Stand bereits berücksichtigt, zweitens der verfassungsrechtlichen Stellung der hier fraglichen Kindergruppe entspricht und drittens die ebenfalls verfassungsrechtlich gebotene Verpflichtung des Staates zur langfristigen und nachhaltigen Kontinuitätssicherung umzusetzen sucht, gilt es, im BGB entsprechende eindeutige Regelungen zu schaffen, die dem Familiengericht aufzuerlegen, auch eine

 

"auf Dauer angelegte Perspektive" (i.S. von § 37 Abs. 1 S. 4 SGBVIII)

 

anzuordnen. Die Voraussetzungen für eine solche Anordnung sollten sich ausschließlich auf das Wohl des Kindes und nicht auf das Tun oder Unterlassen der Eltern oder Dritter fokussieren. Eine solche Anordnung müsste von der regelmäßigen Überprüfung gemäß §§ 1696 BGB, 166 FamFG ausgenommen sein. Zugleich sollte sie auch zur Folge haben, dass die Pflegeeltern unter diesen Umständen auch in Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung Entscheidungen von Gesetzes wegen zu treffen befugt wären. Die Befugnisse der Pflegeperson gemäß § 1688 Abs. 1 BGB sind in dieser Situation nicht mehr ausreichend. Gilt es doch bei einem Auseinanderfallen von Recht und Lebenswirklichkeit, die dadurch zwangsläufig entstehenden Konfliktspannungen möglichst zu reduzieren. Da die Pflegefamilie nach der Rechtsprechung des BVerfG unter den Schutz des Art 6 Abs. 1 GG fällt, braucht diese tatsächlich gelebte Familiengemeinschaft auch rechtliche Entscheidungsbefugnisse, die der übernommenen tatsächlichen Verantwortung entsprechen. Dies gilt im Innenverhältnis dem Pflegekind gegenüber wie auch im Außenverhältnis.